Was sehen wir? Zeichen und Texte an der Wand. Gerahmt. Karikaturen von Lothar Bührmann. Er freilich fehlt nun; wir trauern um ihn. – Posthum über Werke eines Künstlers zu sprechen, ist vielleicht leichter als über den Künstler selbst. Deswegen spreche ich zunächst über Lothars Karikaturen. Karikaturen sind gar nicht so lustig, sie sind etwas schwer Beladenes. Das lateinische Wort „caricare“ heißt „belasten“, den Karren bis zum Rand füllen. Karikieren hat also mit Überladen, Übertreiben zu tun. Der Karikaturist legt den Finger demonstrativ in die Wunden der Gesellschaft. Er wählt Disharmonie statt Harmonie. Er macht sichtbar, was längst aus dem Lot, aus den Fugen ist. Und zugleich tut der Karikaturist das Gegenteil: Er reduziert, er vereinfacht, er lässt das Nebensächliche weg, er wischt beiseite, was die Dinge vernebelt. Übrig lässt der Cartoonist den harten Kern. Er bringt es auf den Punkt. Das sieht manchmal nach wenig aus; aber es ist sehr viel. Auch bei Lothar Bührmann. (…)
Was sehen wir? Zeichen und Texte an der Wand. Gerahmt. Karikaturen von Lothar Bührmann. Er freilich fehlt nun; wir trauern um ihn. – Posthum über Werke eines Künstlers zu sprechen, ist vielleicht leichter als über den Künstler selbst. Deswegen spreche ich zunächst über Lothars Karikaturen. Karikaturen sind gar nicht so lustig, sie sind etwas schwer Beladenes. Das lateinische Wort „caricare“ heißt „belasten“, den Karren bis zum Rand füllen. Karikieren hat also mit Überladen, Übertreiben zu tun. Der Karikaturist legt den Finger demonstrativ in die Wunden der Gesellschaft. Er wählt Disharmonie statt Harmonie. Er macht sichtbar, was längst aus dem Lot, aus den Fugen ist. Und zugleich tut der Karikaturist das Gegenteil: Er reduziert, er vereinfacht, er lässt das Nebensächliche weg, er wischt beiseite, was die Dinge vernebelt. Übrig lässt der Cartoonist den harten Kern. Er bringt es auf den Punkt. Das sieht manchmal nach wenig aus; aber es ist sehr viel. Auch bei Lothar Bührmann.
Parteiliche Poesie und spitze Feder, fragender Text und antwortendes Bild, Wort und Symbol werden kurz geschlossen. Die hintersinnigen Arbeiten des Karikaturisten Bührmann öffnen überraschende Horizonte und verborgene Denk-Räume, unerwartete Ausblicke – ohne schweren Gedanken-Ballast. Das Wesentliche dingfest machen und das Unwesentliche weglassen, dieses Stellung-Nehmen ist seit je die klassische Tugend der Karikaturisten – von Leonardo da Vinci bis William Hogarth, von Wilhelm Busch bis zu Honoré Daumier. Und damit sind wir bei einem zentralen Element der Karikatur: Parteilichkeit, ja: Tendenz! Karikaturisten sind gefährlich, oft sind sie den Mächtigen ein Dorn im Auge. Und Lothar sagte selbst: „Als guter politischer Cartoonist ist man allemal ein unsicherer politischer Kantonist.“ Er wollte wirken in seiner Zeit, subversiv sein, nicht nur ein unverbindlich witziger Pausenclown.
Mit Lothar Bührmann haben wir einen gewichtigen Künstler, insbesondere aber einen klassischen Cartoonisten verloren. Er hat der Karikatur seine sog. „Piktogramme“ hinzugefügt. Ein Zeichensystem eigensinniger Logik und Syntax. Er bediente sich gern allgemein vertrauter Zeichen unserer Zivilisation, baute Wörter aus beweglichen Lettern des guten alten Gutenberg und beleuchte so ihr widersprüchliches, schwankendes Bedeutungsfeld. Er zersägte Wörter in Silben, spaltete Striche und Zeichen ab, fügte Tintenkleckse und Wolken, Staub- und Rauch-Zeichen hinzu. Er zeigte uns, dass Realität anders ist, als sie uns oft vorgemacht wird. Hinter schönen Wort-Attrappen machte er die hässliche Wahrheit dingfest.
Oft spielte Bührmann in seinen Cartoons mit der Leere, der Clou wird nicht gezeigt, man muss ihn sich hinzu denken. Das Ego wird zum Strichmännchen, manchmal zum Strich, es wird „gegen den Strich“ gebürstet. So gerät das Denken in Bewegung, läuft sich warm. Zum Beispiel in dem zeichenhaft geschriebenen Wort-Spiel „DEPONIE“. Das „O“ ist ein runder Haufen deponierter struppiger Striche: sind sie wirklich endgelagert? Oder folgt das dicke Ende noch? – Im Portrait des Geheimen Rats „GOETHE“ hat sich ein Strich zu einem kleinen „e“ eingerollt, wie ein Embryo ruht er im dunklen „O“ von Goethe. Lothar wusste: „Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine…“, und so machte er kleine Portraits großer Fußballer, deutscher und auch international bekannter, wie Pelé, Maradonna oder Zinedine Zidane. Aber auch das Unsägliche geriet ins Bild, z.B. mit dem Wort-Portrait Adolf Eichmann, wo das „i“ zu einem Krematoriums-Schornstein emporwächst, dessen Qualm den berüchtigten Namen erdrückt.
Bührmann sammelte Zeichen und kombinierte Worte, brachte mit knappen Requisiten die Bilder zum Reden. Bezeichnete Charakter oder Habitus eines Menschen schlaglichtartig. Da schwebt ein Wölkchen vor der Augenbraue Ernst Blochs, von der man nicht weiß, ist sie aus der Pfeife des Philosophen gestiegen oder meint sie eine seiner Utopien? – Aus solchen Sinn-Bausteinen entwickelte Lothar Bührmann immer neue Bedeutungs-Architekturen. Und noch etwas: Der Maler Paul Klee hat es für die Klassische Moderne so formuliert: „Kunst macht Unsichtbares sichtbar“. In dieser Tradition stehen Lothars Cartoons. Sie sind – denke ich – auch für einen Anfänger beim Erlernen der deutschen Sprache verstehbar, sie helfen, unsere Sprache besser zu verstehen.
In seinen sog. „Metamorphosen“ – Kombinationen von Schein und Sein, Wahrheit und Vorspiegelung – widerstreiten diverse Realitäten. Nichts ist, wie es auf den ersten Blick erscheint, vieles nur Kulisse. Dahinter taucht plötzlich eine andere, überraschende, gelegentlich empörende Wahrheit auf. Von ähnlichen Übergängen zwischen Kunst und Alltag, Leben und Tod, Verflüchtigung und Versteinerung handeln die „Metamorphosen“ des antiken Dichters Ovid. Er mischte Menschlich-Allzu-Menschliches, Tugend und Verbrechen, Sex & Crime. Und so montierte Lothar Bührmann vergleichbare Gegensätze in seine gezeichneten Metamorphosen. Dem Betrachter kann sich gerade in der Leere dieser Cartoons, der Abwesenheit von vorfabriziertem Sinn, den wir alle suchen, jener autonome Raum öffnen, der unserem Denken neue Richtungen und Inhalte gibt.
Ich komme zum Ende meiner Gedanken zu Lothar Bührmanns Cartoons. Er war ein stiller, verschmitzter Grenz-Gänger zwischen verschiedenen Bildsprachen, er tanzte hin und her zwischen Zeichnung und Malerei, Wort und Bild, Figur und Abstraktion, zwischen Ernst und Ironie, Tradition und Aktualität. Er wollte kein Avantgardist sein. Aber er stand in der Tradition der Moderne.
Die Surrealisten definierten den Kern ihrer Kunst „als zufällige Begegnung zwischen einem Regenschirm und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch“. Bei der Suche nach der Wahrheit beriefen sie sich auf die Methode des „Depaysement“, der „Entheimatung“, die die Dinge von ihrem angestammten, scheinbar selbstverständlichen Platz an einen fragwürdigen Ort verrückt. Dadurch entwarfen sie eine ver-rückte Wirklichkeit, im Namen des Unbewussten und des Traums. In diesem Sinne war auch Lothar Bührmann Träumer, ein Grenzgänger der Genres und der Künste.
Er versuchte beharrlich, das Abstrakte zu konkretisieren, das Andere, das Fremde erfassbar zu machen, hinter der Fälschung das Original zu zeigen. Er hat zur Stellungnahme herausgefordert. – Er hat moderiert zwischen den Gegensätzen, hat das anstrengende Vermitteln, den Kompromiss nicht gescheut. Dies ist schwieriger geworden seit Beginn dieses Jahrtausends, aber Lothar Bührmann zeige, dass es nicht unmöglich ist. Und das hat auch uns, die wir ihn auf seinem Weg ein Stück begleitet haben, ein Stück weit Mut gemacht.
Kleiner biografischer Rückblick:
Lothar Bührmann wurde 1946 in Bremen geboren, hier studierte er in den 60er Jahren Malerei. Dann ging er als Kunsterzieher ans Domgymnasium Verden, als Quereinsteiger – seine Schüler sagen, er habe frischen Wind an unsere Schule gebracht. Ein frischer Wind war auch sein künstlerisches Schaffen, seine zahlreichen Ausstellungen, z. B. in der Kunstschau Böttcherstraße, im Museum Fridericanum zu Kassel, immer wieder auch im Ausland, in Tokio und Wien, in Russland, und Lettland. Er war Stipendiat der Deutschen Akademie „Casa Baldi“ in Olevano und seit 15 Jahren künstlerischer Leiter dieses Hauses sowie Berater für Sonderausstellungen im Hafenmuseum, Speicher XI. Italien. Und nicht zuletzt war er Träger des Friedens- und Kulturpreises der Villa Ichon.
Klaus Hübotter hat Bührmann bewusst einen „Beharrenden“ genannt, der auf Inhalten, Form, Themen beharrte. Bührmanns Beharren sei nicht Starrheit, sondern zeichne sich aus durch eine „balancierende Identität“, ein Aufnehmen von Eindrücken und Einflüssen, und das Durchhalten und Entwickeln einer künstlerischen Linie – über die Zeit. Und dies bei zwei Professionen: zwischen Lohnberuf und künstlerischer Existenz – eine bewunderungswürdige Leistung.
Die beunruhigenden Beziehungen zwischen Wissenschaft und Kunst transparent zu machen, sei immer Bührmanns Thema gewesen, mitten in Politik, Gesellschaft und Kultur.
Zum Schluss sei erinnert an ein Wort des Schriftstellers David Grossman, das Lothar vor wenigen Jahren in einem Gespräch erwähnt hat: „Die Kunst – so Grossman – ist für mich der Ort, an dem Tod und Leben einander am nächsten sind. Die Kunst ist der Ort, an dem wir die Leere, die Nichtigkeit und den Schrecken des Todes und zugleich die Ganzheit des Lebens denken und fühlen können.“ – Besser hätte ich, so Lothar Bührmann in jenem Interview, die Frage nicht beantworten können, denn „ich fühle mich lebendig, wenn ich zeichne. Es ist meine Art, in dieser Welt zu sein.“